Die Pfiffigsten erscheinen am Vorabend,
ausgerüstet mit Klappstuhl, Thermoskanne und Wollmütze gegen die grimmige Kälte am Rio de la Plata. Die Nacht auf dem Gehsteig zahlt sich aus: Am Morgen, wenn die Konsulate ihre Schalter öffnen und die Schlange der Wartenden schnell auf tausend Leute und mehr anschwillt, sind sie die Ersten. Argentinien, das klassische Einwanderungsland, leidet an Abwanderung.
Die Besten wollen weg. Wo immer eine europäische Nation ein Konsulat in Buenos Aires unterhält, zeugt eine riesige Schlange Wartender schon drei Straßenzüge davor von seiner Existenz.
Die ganz Jungen, die dank eines Urgroßvaters aus der alten Welt noch einen
italienischen, spanischen oder deutschen Pass haben, machen aus der eben
erst entdeckten staatsbürgerlicher Pflicht eine Tugend und verschwinden
als Wehrdienstleistende nach Europa. Betriebswirte, Architekten oder Informatiker unterschreiben bereitwillig Verträge, die sie für fünf Jahre als Feuerwehrleute oder Gärtner an irgendwelche öde Gegenden in der Provinz Aragon oder in Kastilien binden. Wer in Argentinien bleibt, versauert:
Bei 16,4 Prozent liegt die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenrate. Nochmals
so viel steuert die zur Beschönigung der Statistik erfundene Kategorie der "Unterbeschäftigten" bei.
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Jeder dritte arbeitsfähige Argentinier hat keinen Job - und stürzt, mangels sozialem Netz, ins Bodenlose.
Bis vor wenigen Monaten war auf der eleganten Avenida Santa Fe kein freies
Ladenlokal zu mieten. Superboutiquen offerierten schrille Mode zu Superpreisen.
Nun lautet der Slogan "Schlussverkauf wegen Geschäftsaufgabe". Die Krise ist den stolzen "Portenos",
den Bürgern von Buenos Aires, anzusehen: Früher stets wie aus dem Ei gepellt, schiebt
sich heute ein Heer von Männern und Frauen in abgewetzten Kleidern durch
das Gedränge in die Büros. Natürlich gibt es das modische Buenos Aires noch.
Im neuen Puerto Madera-Quartier am Hafen unten, wo man im
Gegenwert eines Mindestlohns vorzüglich dinieren und drei, vier Tische weiter
einen Blick auf Maxima werfen kann, die Braut des holländischen Thronfolgers. Die Schicht der Immerschönen und Ewigreichen lebt weit draußen in scharf bewachten "Country Clubs" am
Rande der Pampa. Bodenhaftung entsteht hier nur, wenn sich Räuber eines
Luxusjeeps bemächtigen und eine Schießerei anfängt.
Wie sehr die Menschen auf den Hund gekommen sind, war jüngst an einer live
vom Fernsehen übertragenen Geiselnahme in einer Bank zu erkennen. Als
die Ganoven ihr Scheitern einsahen, stellten sie für die Aufgabe nur eine
Bedingung: "Vier Pizzen und sechs Flaschen Bier."
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